Druckansicht

OR 270, OR 269a lit. a, ZPO 247 Abs. 2

ZMP 2021 Nr. 11: Anfangsmietzinsanfechtung. Orts- und quartierübliche Vergleichsmiete. Tatsächliche Vermutung der Missbräuchlichkeit eines Anfangsmietzinses aufgrund erheblicher Erhöhung gegenüber dem Vormietzins. Kriterien zur Erschütterung der Vermutung. Tragweite der sozialen Untersuchungsmaxime.

01.09.2021 | MJ210048-L | Bezirksgericht Zürich | Mietgericht
Details

Im Urteil 4A_183/2020 vom 6. Mai 2021, teilweise publiziert in BGE 147 III 431, hat das Bundesgericht erstmals die Kriterien umschrieben, anhand derer die Vermieterseite die Tatsachenvermutung der Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses erschüttern kann, die entsteht, wenn der Anfangsmietzins gegenüber dem zuletzt gültigen Vormietzins um deutlich mehr als 10% erhöht wurde (ZMP 2020 Nr. 5, BGer E. 3.4, 3.5 und 4.3). Hilfskriterien können etwa Vergleiche mit Statistiken sein, auch wenn diese nicht alle Kriterien von Art. 11 Abs. 4 VMWG erfüllen (BGer E. 4.3.1). Daneben sind aber weitere Faktoren zu prüfen, so die lange Dauer des Vormietverhältnisses ohne umfassende Anpassung des Mietzinses, die richterliche Lebenserfahrung und Kenntnis des lokalen Marktes, eine zur Bestimmung der Vergleichsmiete an sich nicht genügende Anzahl von 3 oder 4 Vergleichsobjekten und allenfalls gar ein Privatgutachten (BGer E. 3.5, 4.3 und 4.5).

Das Obergericht hat das vom Bundesgericht zurückgewiesene Verfahren zwecks Nutzung der Sachkunde der Erstinstanz und Garantie des Instanzenzuges mit Urteil NG210009-O vom 4. August 2021 ans Mietgericht zurückgewiesen.

Will die Vermieterin die Vermutung umstossen, hat sie mindestens drei oder vier Vergleichsobjekte zu benennen, die nicht durchwegs den strengen Kriterien von Art. 11 Abs. 1 VMWG zu genügen brauchen. Zentrale Eigenschaften wie die Lage im Quartier oder die Lärmexposition der Objekte müssen jedoch vergleichbar sein. Die Substantiierungslast liegt bei der Vermieterin. Es genügt nicht, die Lage mit Allgemeinplätzen wie «mässig lärmig» oder die Ausstattung mit solchen wie «Standard» zu umschreiben. Selbst wenn die Vergleichsobjekte diesen Anforderungen entsprechen, vermögen sie die Missbrauchsvermutung nur umzustossen, wenn das Ergebnis durch eine amtliche Statistik oder ein anderes Element bestätigt wird. Eine Statistik ist dabei zu berücksichtigen, auch wenn sie den Anforderungen von Art. 11 VMWG nicht vollauf genügt. Bestätigt die Statistik hingegen die Missbrauchsvermutung, bleibt es grundsätzlich bei der Missbrauchsvermutung. Gleiches gilt für ein Parteigutachten (E. 2.2.1-2). Die lange Dauer des Vormietverhältnisses von mehr als 15 Jahren kann zwar ein Indiz dafür sein, dass der Vormieter von einer Prämie des langen Mietverhältnisses profitiert hat. Voraussetzung ist allerdings, dass Hinweise für ein während der Dauer des Vormietverhältnisses erheblich gestiegenes Mietniveau bestehen. Dies kann ausgeschlossen werden, wenn der für die Plausibilitätskontrolle herangezogene und an sich veraltete statistische Mietzins aufgrund eines Mietindexes korrigiert wird, der auch das durch Neuvermietungen gestiegene Mietniveau abbildet. Dies ist beim Mietpreisindex der Stadt Zürich der Fall (E. 2.2.3). Die gerichtliche Erfahrung kann für die Plausibilisierung der Missbrauchsvermutung die übrigen Kriterien nicht ersetzen, denn auch ein Fachgericht ist nicht in der Lage, aus seiner zwangsläufig beschränkten Kenntnis der Marktverhältnisse ein Vergleichsmiete-Niveau festzulegen. Möglich sind immerhin gewisse allgemeine Aussagen zur Struktur des Mietmarktes und zur Entwicklung des Mietpreisniveaus sowie zur Überzeugungskraft der Plausibilitätskriterien, namentlich der vorhandenen Statistiken und Indizes und des aus den präsentierten Vergleichsobjekten erweckten Anscheins (E. 2.2.3).

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Tragweite der sozialen Untersuchungsmaxime im Bereich des sozialen Prozessrechts im Sinne von Art. 247 Abs. 2 ZPO stellt keine Abkehr von der Praxis zu aArt 274d Abs. 3 OR dar. Das Gericht kann daher nach wie vor und unabhängig von der Beteiligung von Anwälten

–    den für die Rechtsanwendung notwendigen Sachverhalt vervollständigen, soweit er erkennbar unvollständig vorgetragen wird,

–    sämtliche Akten berücksichtigen und selbst Kenntnisse verwenden, die es von Dritten hat [etwa aus dem Internet] und

–    Beweise erheben, ohne grundsätzlich an die Darlegungen und Beweisanträge der Parteien gebunden zu sein.

Dies bedeutet zwar nicht, dass die Gerichte von sich aus Vergleichsobjekte zur Bestimmung der Quartierüblichkeit zusammenzutragen haben, aber sehr wohl, dass sie auch ohne Antrag die Überzeugungskraft von Vergleichsangeboten mittels notorischer Indikatoren wie dem GIS-Browser des Kantons Zürich hinterfragen können (E. 2.2.2).

 

Bezirksgericht Zürich

Mietgericht

Urteil

01.09.2021

MJ210048-L

OR 270
OR 269a lit. a
ZPO 247 Abs. 2

ZMP 2020 Nr. 5

ZMP 2023 Nr. 1

Zitiervorschlag:

OGer ZH XX110001 vom 01.01.2011